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Ein Bezug zu Beziehungen

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Da hier vor Kurzem ein Artikel zur Polyamorie veröffentlicht wurde, oder besser zu einem diesbezüglichen Video verlinkt wurde, sehe ich mich dazu motiviert, meine Erfahrungen zum Thema Freundschaft und gesellschaftliches Miteinander und die jeweiligen Schlüsse, welche ich daraus ziehe, nieder zu schreiben.

In meinen Augen liegt der notwendigste Wandel nicht unbedingt im Gesellschaftssystem. Natürlich ist die repräsentative Demokratie und der Kapitalismus Keimzelle der meisten Ungerechtigkeiten und beeinflusst unser Handeln maßgeblich durch konstruierte Sachzwänge, die Quasi-Unmöglichkeit der Meinungsvertretung und Wettbewerbsnötigung. Aber ich persönlich würde einem einfachen „System“ nicht die komplette Verantwortung für konventionalisierte Unfreiheiten, eine Scheinindividualisierung und den Verlust der Lebensfreude zusprechen wollen. Der freie Wille der Menschen (so sehr er von unserem Umfeld etc. abhängig sein mag) ist doch das, was die Anarchie erst erstrebenswert machen würde, weswegen ich nicht glauben kann/will, dass mensch sich unter bestimmten Umständen nur auf eine Weise verhalten kann.

Oder anders gesagt: Wären alle Menschen dazu gewillt, aufeinander zuzugehen, über das was sie eigentlich wollen nachzudenken und in der Lage diese Wünsche zu äußern ohne einen Gesichtsverlust riskieren zu müssen, wären alle fähig, andere Meinungen neben sich existieren zu lassen, einem ultimativen Wahrheitsanspruch zu entsagen und würden alle den Menschen und nicht dessen Funktion in den Vordergrund stellen, dann könnte mensch auch unter den widrigsten Bedingungen am System „vorbeileben“ (was selbstverständlich nicht oberstes Ziel, aber ein in meinen Augen wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer tatsächlich befreiten Gesellschaft ist).

Was es meiner Meinung nach also zu allererst zu erreichen gilt, ist eine zwischenmenschliche Kommunikation, die eine befreite Gesellschaft erst ermöglichen würde. Und so eine Kommunikation will gelernt sein, bestimmte Verhaltensmuster werden schon in der Kindheit erlernt, die es erstmal zu erkennen und zu analysieren gilt. Dann kann entschieden werden, ob diese Muster wirklich förderlich sind oder ob sie ein freies Leben nicht doch eher verhindern. Gemeinschaftliches Miteinander besteht in meinen Augen aus ganz vielen Balancen, die mensch immer wieder neu definieren muss und deren Haltung essentiell für die Freiheit der Gesellschaft ist.

Die Waage zwischen der Naivität und dem gesunden Misstrauen

Das erste „Defizit“, das ich immer wieder sehe, ist mangelndes Vertrauen. Manches mal ist es sicherlich gut begründet und fußt auf gemachten Erfahrungen, doch kann ich mich doch nicht frei bewegen, mich anderen öffnen und mitteilen, kann meine Persönlichkeit nicht ausleben, wenn ich immer Angst haben muss, dass der Verfassungschutz mich beobachtet. Das ist in meinen Augen ein Szeneproblem, aber auch in der restlichen Gesellschaft lebt mensch in ständiger Angst. Es gibt bestimmte Konventionen, Tabus, welche mensch nicht brechen darf. Ich werde versuchen, dies an einigen Beispielen aufzuzeigen.

1. Der Ekel vor sich selbst
Mensch mag von Charlotte Roche und ihrem fäkaliengezierten Skandalbuch halten was mensch möchte, aber sie hat in einem Stefan-Raab-Interview ein Thema angesprochen, das sehr schön aufzeigt, wie sehr wir uns vor uns fürchten. (Einzusehen hier)
Sie stellt in diesem Interview fest, dass auch Frauen Haare am Po haben und bittet in die Runde, sich doch zu melden, wenn dies bei einem_r selbst der Fall sein sollte. Das Tragische ist, dass außer ihrer eigenen Hand so gut wie keine oben war. Mensch hat nämlich keine Haare am Po. Mensch schwitzt auch nicht, das wäre ja eklig. Mensch produziert keine Verdauungsgase und popelt nicht in der Nase.
Ich muss mich immer verstecken. Mein Körper macht völlig selbstständig lauter widerliche Dinge, für die ich mich schämen muss. Und hier beginnt etwas, dass sich durch unser ganzes Leben zieht. Mensch schämt sich irgendwann nicht nur für ihren/seinen „Gestank“, sondern auch für ihr/sein Aussehen und in letzter Instanz für ihre/seine Gedanken und Bedürfnisse. Was uns zum zweiten Punkt führt.

2. Die Angst vor unseren Gefühlen und Wünschen
Unsere Emotionen auszudrücken ist in der misstrauischen, distanzierten Gesellschaft fast unmöglich. Das gilt nicht nur für die negativen Gefühle, von denen wir schon als Kinder gezeigt bekommen, dass sie schlecht und unangebracht sind. Diese sind bei männlich sozialisierten Menschen häufig Schwäche und Trauer, bei weiblich sozialisieren Menschen ist es die Wut, die niemals nach Außen dringen darf. Doch auch positive Gefühle dürfen nur in einem bestimmten Rahmen geäußert werden, so ist bespielsweise Singen oder Tanzen in der Öffentlichkeit (z.B. auf der Straße) vollkommen unangebracht und wird entsprechend mit Blicken und geflüsterten Kommentaren geächtet. Gleiches gilt für das Tragen bestimmter Kleidung – plötzlich ist mensch ein öffentliches Ärgernis. Aber wieso? Woher genau kommt diese Angst? Diese Scham? Dass es peinlich ist, vor der Klasse zu sprechen oder zu sagen, wenn mensch etwas möchte wie zum Beispiel eine Umarmung?
Die Antwort liegt möglicherweise hier:

3. Das Gefühl „nicht richtig“ zu sein
Gerade die äußerlichen Aspekte sind wohl sehr stark von Bildern beeinflusst, die immer wieder reproduziert werden. Bilder, denen kein Mensch vollkommen entsprechen kann, weswegen immer versucht wird, das zu vertuschen bzw. auf die noch unzureichendere Erfüllung dieser Anforderungen von anderen Personen zu verweisen. „Guck mal der da vorne, der trägt einen blöden Hut, was für ein Freak.“, sagt die unter mehreren Make-up-Schichten verschwindende 13-Jährige, die so einen Hut eigentlich ziemlich witzig findet.
Weil bestimmte Themen nicht angesprochen werden, dürfen sie auch nicht passieren. Wir sind vergeistigte Lichtgestalten, wir müssen nicht auf’s Klo und wenn dann nur, um uns die Nase zu pudern. Es ist nicht richtig, Durchfall oder Haare unter den Achseln zu haben, wir reden nicht drüber, also geschieht es auch nicht. Und sollte es doch geschehen, wird es problematisch, wir müssen es verheimlichen und dürfen auf keinen Fall darüber sprechen. Ein Teufelskreis.
Das Schlimmste ist allerdings, dass es sich auf alle Bereiche des Denkens überträgt und eine_n in eine permanente Panikstarre verstetzt, weil mensch nie weiß, ob das, was mensch gerade denkt auch „okay“ ist. Das widerum bedingt eine Obrigskeitshörigkeit und ein immer geschwächteres Selbstwertgefühl.

Aber das muss ja nicht so sein…
…und ist auch nichts, was durch die momentane Gesellschaftsstruktur unveränderlich verankert ist. Einfach mal verrückt sein, tun, wonach einer_m ist und das unabhängig von schiefen Blicken. Solange vorleben, bis niemand mehr tuschelt.
Und auch selbst Menschen vertrauen, selbst wenn es keinen Grund dafür gibt. Vieles hängt von einer Erwartungshaltung ab. Traue ich einer Person zu, mich zu hintergehen, wird sie das merken und eine entsprechende Distanz aufbauen. Gehe ich auf eine Person mit einem Lächeln zu, wird sie es sich zweimal überlegen, mich schlecht zu behandeln. Selbstverständlich trifft mensch immer wieder auf Personen, die das Vertrauen nicht verdient hätten, aber ich finde es wichtiger, die paar Leute zu bedenken, die ansonsten vor einer Mauer aus unbezwingbarer Paranoia bzw. aus Angst vor Verletzung und Selbstverweigerung frustriert zurückweichen.
Der Trick besteht darin, anderen nicht sofort alle Privatsachen oder vertrauliche Informationen auf die Nase binden zu wollen und trotzdem freundlich und herzlich zu sein, auch mal die Geduld aufzubringen, sich etwas anzuhören, was politisch noch nicht ganz ausgereift ist und Hilfestellung und Erklärung anzubieten.

Die andere Meinung – Toleranz oder Desinteresse

Nun gibt es durch die Vielfalt der Individuuen allerdings auch immer wieder Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikte. Die gibt es so oder so, mensch kann sich dann entweder mit den jeweiligen Personen auseinandersetzen oder sie ignorieren. Und hier muss mensch wieder die Balance finden – Welche Meinung kann ich tolerieren, selbst wenn sie nicht meiner Wertevorstellung entspricht und welche Meinung ist intolerabel? Häufig passiert es auch, dass Menschen aus Angst vor einem Konflikt in gegenseitiges Desinteresse abschweifen. Doch das Interesse aneinander ist – in einer funktionsfähigen Gesellschaft – unabdingbar. Was nicht bedeuten soll, dass jeder Konflikt in einen Zwangkonsens ausarten sollte, aber tatsächlich ist es so, dass die meisten zwischenmenschlichen Probleme durch offene Gespräche, den ehrlichen und interessierten Umgang miteinander und ein bisschen Geduld lösbar sind. Wie Peter Maffay schon so schön in Tabaluga sang: „Doch können wir nicht Freunde werden / So woll’n wir niemals Feinde sein.“
Immer wieder das Gespräch mit anderen zu suchen und möglichst viel Kontakt zu allen Seiten der Außenwelt aufzubauen ist in meinen Augen genauso wichtig, wie realisierbare Konzepte und eine stabile theoretische Grundlage zu haben. Denn was bringt ein aufklärerischer Ansatz, wenn mensch nur mit Personen zu tun hat, die sowieso schon größtenteils das Gleiche denken wie mensch selbst. Außer, dass mensch sich dann wegen Sachen zerfleischen kann, die sowieso noch in weiter Ferne liegen.


Respekt und Eifersucht, ein Ausschluss?

Um nun auch nochmal auf die Liebe zurückzukommen: Ich selbst vertrete wohl einen polyamorösen Standpunkt und lasse einfach allen Menschen, die ich „liebe“ sowohl psychische wie auch physische Zuwendung zukommen. Ich könnte nun sagen, dass, sollte mensch mich respektieren wollen, sie/er das verstehen sollte. Doch das Schöne an Gefühlen ist ja auch, dass mensch sie nicht unbedingt in so einem Maß beeinflussen kann, wie das manchmal vielleicht wünschenswert wäre. An dieser Stelle möchte ich auf gesellschaftlich dominante Beziehungsmuster eingehen. Ich kann niemandem verübeln, in einer Liebesbeziehung die/der Einzige sein zu wollen und sich im Falle eines „bösen Erwachens“ – er/sie ist *nicht* der/die Einzige – minderwertig und frustriert zu fühlen. Und auch Eifersucht ist im Augenblick auch noch Teil all dessen. An diesen Punkten spiegeln sich viele erlernte Beziehungsmuster wieder. Natürlich gilt das nicht für alle, aber ich denke doch, dass viele in der Praxis mit der Polyamorie bzw. ihren eigenen exklusiven Gefühlen sicherlich zu kämpfen haben, auch wenn sie das Konzept ideellerweise unterstützen. Das, was wir täglich vorgelebt bekommen ist schließlich etwas anderes.
Ein interessanter Ansatz hierzu und warum die RZB heute so wichtig ist kam neulich auch bei Planet Wissen von Richard David Precht.

Wie bei allem anderen gilt es auch hier wieder eine Balance zu finden. Wie sehr möchte ich mich in etwas hineinbegeben, wie viel von mir selbst möchte ich aufgeben, um in einer oder gar mehreren Beziehungen sein zu können? Wie wichtig ist mir eine Freiheit, die ich in einem solchen Kontext nicht ausleben könnte? Wie zeige ich meine Liebe, wie sehr steigere ich mich in etwas hinein, oder wie locker gehe ich an eine Beziehung ran? Denn sollte der/die Partner_in mit einer bestimmten Erwartungshaltung an etwas herangehen, die nicht meiner eigenen entspricht, führt das meistens zu einer Verletzung einer der beiden Parteien. Das lässt sich durch Kommunikation natürlich nicht restlos ausschließen, aber sie würde doch einiges besser machen.

Zusammenfassend würde ich also sagen, dass eine herrschaftsfreie Gesellschaft nur dann realisierbar ist, wenn mensch nicht nur auf sein Umfeld und grobe -Ismen achtet, sondern auch sein eigenes Verhalten immer wieder hinterfragt und im Bezug auf die Wirkung anderen gegenüber analysiert.

Soweit meine Einschätzung, nicht ultimativ, sicherlich ungeschliffen, doch möglicherweise können die ein oder anderen Korrekturen und Hinweise zu einer differenzierteren Version beitragen. Ich hoffe auf Eure Mitarbeit! : )


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